60 Jahre nach der Befreiung vom Hitler- Faschismus ist der Umgang mit dem Thema Gedenken an die Opfer des Nazi- Regimes in unserem Land immer noch schwierig. "Unwillingness to heare the truth" sei in der deutschen Bevölkerung vorherrschend, stellte der britische Kulturoffizier Artlaur Diekens fest, als er im Mai 1945 nach Lübeck kam, um zu helfen mit dem geistigen Erbe des Nationalsozialismus aufzuräumen und einer Demokratiselaen Entwieklung den Weg zu Bahnen. Dieser Unwille, sich der historischen Wahrheit zu stellen, ist noch heute weit verbreitet, und er äußert sich nicht nur in der Weigerung von NPD- Abgeordneten im sächsischen Landtag, der Opfer des Ns- Terrors zu gedenken.
Die
Auseinandersetzung um die Gedenkstättenpolitik im Geschichtsjahr 2005, die Jan Philipp Reemtsma treffend "Gedenkstättenideologie" nennt, sind weitere Belege für diese Haltung. Immer wieder wird versucht, nicht mehr zwischen Nationalstlzialismus und DDR- Zeit zu unterscheiden. Antifaschismus soll durch Antitotalitarismus ersetzt werden. Gegen solehe Gleichsetzung wehren sich der Zentralrat der Juden ebenso wie Opferverbände, weil dadurch Holocaust, Euthanasie und politische Verfolgung verharmlost werden.
Auch die Arbeitsgemeinschaft der KZ- Gedenkstätten in Deutschland teilt die Befürchtung dcs Zentralrats der Juden und der Opferverbände, dass mit der "Gleichsetzung beider Diktaturen die Ns- Verbrechen verharmlost und relativiert und mit falschen Vergleichen, Opferaufrechnungen und verzerrten Geschichtsdarstellungen Tür und Tor geöffnet werden."
Auch die Frauen und Männer der "Initiative Blumen für Gudendorf", die seit 1983 alljährlich an einem Sonnabend um den 8. Mai in Gudendorf ein Gedenkveranstaltung auf dem Ehrenfriedhof zur Erinnerung an die in Massengrübern liegenden sowjetischen Kriegsgefangenen abhalten, sahen sich in der Vergangenheit politischen Verdächtigungen ausgesetzt. Die "Dithmarscher Landeszeitung" unterstellte noch 1987 in einem Bericht über die Gudendorfer Gedenkveranstaltung der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes - Bund der Antifaschisten, sie habe die "Feier zu Ehren gestorbener sowjetischer Kriegsgefangener anlässlich des Jahrestages der Kapitulation der Deutschen Wehrmacht benutzt, um für die gegenwärtige sowjetische Abrüstungspolitik zu werben".
Frieden und Antifaschismus war unter dem Motto "Erinnern für die Zukunft" immer Anliegen der Initiative, die überwiegend aus Vertretern der Friedensbewegung in Schleswig- Holstein bestand. Dazu gehörten die inzwischen verstorbenen Pastoren Christian Dethleffsen (Pinneberg) und Walter Klie (Kiel) von "Christen für Abrüstung", der Publizist Gerhard Hoch (Alvesloe), die Lehrerin lrmgard Jasker von der Friedenswerkstatt Wedel, Benno Stahn, Sprecher der Friedensinitiative Kiel, Hans Motzner, Vorsitzender der Gesellschaft BRD- UdSSR, der Journalist Gänther Wilke aus Wedel und Karl- Heinz Lorenzen, Landesvorsitzender der VVN-BdA.
Gudendorfs damaliger Bürgermeister Ferdinand Kollhorst (CDU), der als einer der ersten lokalen Repräsentanten an der Gedenkfeier teilnahm, musste sich Vorwürfe gefallen lassen, als er zusammen mit dem ehemaligen Sachsenhausen- Häftling, dem Kommunisten Karl- Heinz Lorenzen aus Flensburg und einem sowjetischen Generalkonsul am Mahnmal auf dem Ehrenfriedhof das Wort ergriff. Ferdinand Kollhorst ist es wesentlich zu verdanken, dass Gudendorf, die "weithin unbekannte Gedenkstätte" wie die Zeitung "Flensborg Avis" noch 1992 schrieb, ein Ort der Erinnerung geworden ist. Immer mehr Personen aus Dithmarschen unterstützen das Anliegen der Initiatoren und warben wie Pastor Dr. Stein und andere
für die Verbreiterung der Basis der "Initiative Blumen für Gudendorf".
Die Initiative gab sich ihren Namen in Anlehnung an die Initiative "Blumen für Stukenbrock", die ebenfalls um den 8. Mai zum Gedenken an die 30.000 sowjetischen Kriegsgefangenen aufruft, die dort zwischen Bielefeld und Gütersloh in Massengräbern verscharrt wurden. Dabei kam es uns nicht auf die Zahl der Opfer an, die in der Gudendorfer Erde liegen, sondern auf die Erinnerung an die Naziverbrechen und die Mahnung, für Frieden und Verständigung einzutreten. 1960 hatte der Volksbund deutsche Kriegsgräberfürsorge von 3.200 sowjetischen Kriegsgefangenen gesprochen, die in Gudendorf begraben lägen.
Der junge Historiker Martin Gietzelt studierte vorhandene Quellen und kam zur Schlussfolgerung, dass
"die bisher angenommene Opferzahl von über 3.000 als wesentlich zu hoch angeschen werden muss". Selbst wenn es sich "nur" um etwas mehr als 300 Kriegsgefangene gehandelt hätte, wäre kein Wort, das in Gudendorf gesprochen wurde, zurückzunehmen.
Mancher mag beim Lesen von Martin Gietzelts Recherchen darüber erleichtert gewesen sein, dass die "monströse Zahl von mehr als 3.000 Toten" nicht mehr aufrecht zu erhalten ist. Es mögen auch jene triumphieren, die alle über Ns- Opfer bekannt gewordenen Zahlen generell in Zweifel ziehen. Tatsache bleibt jedoch, wie Martin Gietzelt schreibt, "dass das Kriegsgefangenenlager und das erweiterte Krankenrevier in Gudendorf Teil eines Systems war, 'das den Tod der sowietischen Gefangenen offen einkalkulierte und für deren Lebensbedingungen nicht menschliche, sondern wirtschaftliche Maßstäbe galten.'" Dieser Feststellung wäre beizupflichten, wenn auch noch auf die rassistischen Motive der Nazis hingewiesen würde, deren Ziel die Ausrottung der "ostischen Rasse" gewesen
ist.
Pastor Heinrich Albertz, einst Regierender Bürgermeister in der geteilten Stadt Berlin, sprach am 9. September 1980 in Stukenbrock von einer "merkwürdigen Verpesslichkeit", die sich in der Bundesrepublik Deutschland breit gemacht habe. "Manchmal habe ich den Eindruck", so sagte Heinrich Albertz, "als hätte 1941 die Sowjetunion das Deutsche Reich uberfallen und nicht umgekehrt. Diese furchtbare Vergesslichkeit, dieses Verdrängen von Tatsachen, dieses Umdrehen von Fakten ist für mich eine Hauptbegründung für die gefährliche Art, mit der wir nun auch mit der Gegenwart umgehen".
Die Akte Gudendorf darf auch mit der Arbeit von Martin Gietzelt nicht geschlossen werden. Nicht allein deswegen, weil weitere Fakten bekannt werden oder bisher unbekannte Zeitzeugenberichte auftauchen könnten, sondern weil wir es nicht zulassen dürfen, dass Erinnerungskultur durch Erinnerungsideologie ersetzt wird. Gudendorf muss eine Gedenkstätte bleiben, die Zeugnis von den Verbrechen des Hitler-Faschismus ablegt und zugleich mahnt, immer und überall für Frieden und Völkerverständigung einzutreten.
Günther Wilke