Wissenschaftlichkeit und Sprache in der Arbeit
"Die Gedenkstätte Gudendorf" von Martin Gietzelt. (Zeitschrift Dithmarschen Heft 3/2004)
Auf die Geschichtswissenschaft angewendet lesen sich die Aussagen des brasilianischen Pädagogen Paolo Freire in etwa so:
"Geschichtswissenschaft kann niemals neutral sein. Entweder ist sie ein Instrument zur Befreiung des Menschen oder sie ist ein Instrument zu seiner Domestizierung, seiner Abrichtung zur Unterdrückung. (...) Es gibt keine andere als politische Geschichtswissenschaft, und je unpolitischer eine Geschichtswissenschaft sich versteht, desto gefährlicher sind ihre politischen, ihre herrschaftstabilisierenden Wirkungen." 1)
In der Arbeit von Martin Gietzelt sind interessante Fakten und weiterführende Quellenangaben zusammengestellt. In dieser Hinsicht könnten wir von der Bewegung gegen den Krieg Dithmarschen doch eigentlich ganz zufrieden sein. Endlich gibt es eine zitierfähige regionalgeschichtliche Grundlage für unsere politische Arbeit gegen das Vertuschen und Relativieren der Verbrechen von politischem Apparat und Wehrmacht während des deutschen Faschismus. Doch leider ist Martin Gietzelt bei seinem Bemühen um Neutraltät nicht erfolgreich. Das möchte ich am Beispiel Sprache und am Beispiel des Umgangs mit Schätzungen und Schlussfolgerungen aufzeigen.
Sprache
Martin Gietzelt bevorzugt eine am Amtsdeutsch orientierte, nüchterne Sprache. So ist zum Beispiel auf Seite 68 der scheinbar unverfängliche Satz zu lesen: "Am 1. 10. 1944 hielten sich 199 sowjetische Kriegsgefangene im Erweiterten Krankenrevier auf." Hier muss ich schlucken. Was heißt "sich aufhalten"? Man hält sich auf, wo es einem gefällt, braucht vielleicht eine Aufenthaltsgenehmigung und das Personal wünscht einen guten Aufenthalt. Seinen ständigen Aufenthalt nehmen ist ein Willensakt. Dies trifft auf Kriegsgefangene nicht zu. Sie werden zwangsweise per Bahn nach Deutschland transportiert, da würde doch das neutralere "sie fahren nach Deutschland" auch genau das Gegenteil aussagen. Im Bemühen um sprachliche Neutralität ist die Gefahr der inhaltlichen Verharmlosung von Verbrechen enthalten. Ein Satz wie der oben zitierte muss deshalb heißen: "Am 1. 10. 1944 wurden 199 Sowjetsoldaten im Erweiterten Krankenrevier gefangengehalten." Martin Gietzelt zeigt im Text an einigen Stellen wenig Distanz zur sprachlichen Brutalität der NS- Verwaltungssprache. Ohne Zitatkennzeichnung wird z.B. über Ajub Chatschak, geb. 1904 im Text geschrieben, dass er "... an Tuberkulose erkrankt, ins Lazarett Rohrsen überstellt wird. Dort stirbt er am 12. 7. 1944." (S.65) überstellt werden Verbrecher, nicht aber Kriegsgefangene, denen unsere Solidarität gilt. Doch schlimmer noch als diese sprachlichen Unsauberkeiten ist der Umgang mit den
Zahlenangaben
über die gestorbenen und ermordeten Kriegsgefangenen. Für die abschließende These "muss die bisher angenommene Opferzahl von über 3000 sowjetischen Kriegsgefangenen auf der Gedenkanlage als wesentlich zu hoch angesehen werden." (S.76) finden sich innerhalb der Argumentation des Textes widersprüchliche Belege. Da wird auf S.58 bekannt gegeben, dass die Unterlagen der ehemaligen Wehrmachtsauskunftstelle (WASt) "eine genaue Erfassung sämtlicher sowjetischer Gefangener innerhalb des Reichsgebietes möglich macht." Das wird allerdings erst (wie auch Martin Gietzelt weiß) möglich sein, wenn das Aktenerschließungsprojekt in Podolsk bei Moskau in einigen Jahren abgeschlossen sein wird. Deshalb müssen alle Zahlenangaben zu Opfern als vorläufig angesehen werden. Angesichts dessen erstaunt die sehr selbstsichere Ausdrucksweise beim Umgang mit Zahlenmaterial. Noch auf Seite 64 sagt uns der Autor "fehlten für eine generelle Beschreibung der Entwicklung der Belegung Dithmarschens mit sowjetischen Kriegsgefangenen ab dem Frühjahr 1942 und deren Sterberate ausreichende Quellenhinweise." Abgesehen von der sprachlichen Grausamkeit das zwangsweise Wohnen in nicht heizbaren Kohlenschuppen, Scheunen, Gastwirtschaftsdurchfahrten oder Feuerwehrgeräteschuppen als "Belegung Dithmarschens mit sowjetischen Kriegsgefangenen" zu bezeichnen, ist hier sachlich richtig eingeräumt, dass zur Zeit keine genauen Angaben und Zahlen verfügbar sind. Vor diesem Hintergrund sind die Behauptungen des Autors zu den Toten in Gudendorf für mich nicht nachvollziehbar. Auf Seite 70 schreibt Gietzelt: "Mit dem Gefangenenschicksal von Alexei Seliwanow haben wir einen Hinweis darauf, dass vereinzelt Bestattungen auf dem Gebiet der Gudendorfer Gedenkanlage vorgenommen worden sind." Wie kommt der ansonsten eher wertungsarm schreibende Autor auf vereinzelt, wo er doch einige Seiten vorher ausführlich das Fehlen von Quellen beklagt hat? Er argumentiert mit der aus Personalkarten sichtbaren Funktion von Heidkaten als "Lazarett" und Sterbelager. Was aber geschah mit den toten sowjetischen Kriegsgefangenen, die nicht mehr nach Heidkaten kamen? Wie kommt er zu seinem "eher als selten anzunehmen" (S.71) in Sachen Bestattungen? Kann ja sein, aber sicher ist es nicht. Gut ist die Feststellung im Satzanfang "Hinweise auf eine systematische Nutzung als zentraler Begräbnisplatz fehlen..."(S.71). Eine solche Aussage ist fachlich in Ordnung, wenn festgestellt wird, dass sich ein Sachverhalt zur Zeit bei der gegebenen Quellenlage nicht klären lässt. Jede Vorsicht verlässt den Autor, wenn er schreibt: "Aus dem Gefangenenlager für sowjetische Kriegsgefangene in Gudendorf sind mindestens neun Opfer vom November 1941 nachzuweisen. Weitere Opfer im Winter 1941/42 sind als wahrscheinlich anzunehmen, wobei ab dem Frühjahr 1942 von wenigen bis keinen Opfern mehr auszugehen ist." Woher weiß Martin Gietzelt das? Es ist einzig seine Vermutung, dass bei dem ab 1942 deutlicher sichtbaren Arbeitskräftemangel sich auch die Situation der sowjetischen Kriegsgefangenen verbesserte. Ausreichendes Essen, warme Unterkunft, angemessene Arbeitsbekleidung und kürzere Arbeitszeiten waren jedoch per Erlass ausgeschlossen, durch die Dauer der Gefangenschaft steigt dagegen das Entkräftungs- und Krankheitsrisiko. Die im Bericht umrissenen Aussagen von Zeitzeugen aus den Jahren 2003 und 2004 werden von Martin Gietzelt jedenfalls für die Zeit des Erweiterte Krankenreviers so zusammengefasst: "übereinstimmend wird der allgemeine Gesundheitszustand der sowjetischen Kriegsgefangenen als schlecht beschrieben, was vor allem dem Hunger zugeschrieben wird." (S.69) Wie passt das mit der Aussage zusammen, dass "ab dem Frühjahr 1942 von wenigen bis keinen Opfern auszugehen ist." (S.70) Der Autor schwächt die Heidkaten- Erklärung dahingehend ab, dass kranke sowjetische Kriegsgefangene in den Jahren 1942, 1943 und im ersten Quartal 1944 "überwiegend"(S.71) in das Lazarett Heidkaten gebracht wurden. Was geschah mit den restlichen Menschen ? Als Beleg für die Transporte werden im Bericht Eintragungen auf den Personalkarten I angegeben. Martin Gietzelt bemerkt zu diesen Eintragungen "auch wenn diese keine systematische überlieferung bedeuten" (S.71) und schränkt zu Recht die generelle Verwertbarkeit seiner Erkenntnisse ein. Zusammenfassend ist zu sagen: Nur weil auf einigen überlieferten Personalkarten Aufenthalte im Lazarett Heidkaten eingetragen sind, kann daraus nicht geschlossen werden, dass kranke sowjetische Kriegsgefangene per Lenkung generell nach Heidkaten kamen. Und auf dieser ungesicherten Grundlage für die Jahre 1942, 1943 usw. von "wenigen bis gar keinen weiteren Opfern mehr" auszugehen ist angesichts der heutigen dürftigen Quellenlage sehr gewagt. Aus dem Blick gerät bei der Betrachtung des Erweiterten Krankenreviers und des Krankentagebuchs 10/1944 bis 3/1945 mit den Aussagen zu "Sterblichkeit", "Aufenthaltsdauer", "Belegungsstärke" und dem etwas unglücklichen Versuch aus den dokumentierten 19 toten Sowjetsoldaten eine "Sterberate" für die nicht dokumentierten Zeiten hochzurechnen, die Tatsache, dass es ab Ende 1941 in Gudendorf ein Kriegsgefangenenlager gab. Zur Zeit scheint es außer den auf S.64 dokumentierten Dokumenten wenig gesicherte Quellen über die Zustände in diesem Lager zu geben. Erst mit dem freien Zugriff auf die Informationen der WASt könnten genauere Angaben möglich werden. Auch diese Tatsache mahnt zu großer Vorsicht beim Umgang mit ungesicherten Zahlen.
Geschichtswissenschaft kann niemals neutral sein.
Deshalb spielen sowohl die Ausdrucksweise als auch der verantwortungsvolle Umgang mit spärlichen Quellen und überlieferungen eine so wichtige Rolle. Sie zeigen, welche Position ein Autor einnimmt. Ich finde dass Martin Gietzelt bei allem nüchternen Sichten und Bewerten der Dokumente recht kühne Schlussfolgerungen zieht. Vielleicht ist es ja so, wie Martin Gietzelt vermutet, mir wäre es aber lieber, wenn die offenen Fragen zunächst einmal offen blieben und wenn wir die jetzt, auch durch die vorliegende Arbeit endlich sichtbar gemachten Verhältnisse und Menschenschicksale als Beispiele sehen. Als Beispiele für Rassismus und aggressive Militärpolitik, als Beispiele für Vernichtungsideologie und unmenschliche Behandlung. Ja es ist eine bewusste Parteilichkeit, eine Frage offen zu halten und denjenigen gesellschaftlichen Kräften, die Verbrechen an den Kriegsgefangenen und Zwangsarbeitern kleinreden und relativieren wollen, nicht leichtfertig Argumentationshilfen zu geben.
Georg Gerchen, Bewegung gegen den Krieg Dithmarschen
1) Vergl.: Freire, Paulo: Pädagogik der Unterdrückten, Stuttgart, Berlin 1972, S. 14 und S. 20.