Es gibt viele Gründe, von einer tiefen Krise Afrikas zu sprechen, in die "afrikanische Totenklage"
(P. Scholl - Latour) einzustimmen. Hilfsorganisationen wie "Brot für die Welt", "Misereor" oder
"terre des hommes" weisen uns auf eine Vielzahl von Problemen hin:
1. mehr als ein Dutzend afrikanischer Länder sind derzeit in Kriege oder in bürgerkriegsähnliche
Wirren verstrickt,
2. 70% aller AIDS-Infizierten leben in Afrika; Schätzungen gehen für das Jahr 2010 von 50
Millionen AIDS -Waisen aus,
3. 30 Millionen Afrikaner sind von Hungersnöten betroffen,
4. jedes zehnte Kind in Afrika stirbt vor seinem ersten Geburtstag,
5. ein Drittel der Bevölkerung des Kontinents verfügt über keinerlei medizinische
Versorgung,
6. mehr als die Hälfte hat keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser,
7. nahezu 50% sind Analphabeten,
8. der Anteil am Wert des Welthandels beträgt nur 2%.
Diese Negativliste lässt sich leicht fortsetzen. Der Völkermord in Ruanda ruft lähmendes Entsetzen
hervor, aber keine Eingreiftruppe hat das Massaker an den Tutsis verhindert. Macht es (doch) einen
Unterschied aus, ob weiße oder schwarze Menschen von Massenmord bedroht sind?
Politische Machtansprüche und hemmungslose Gier nach Rohstoffen (z.B. Erdöl, Gold, Diamanten...) machen viele Länder des Kontinents zu einem Spielball korrupter Regierungen und multinationaler Konzerne, von privaten und regierungsamtlichen Waffenhändlern. Der stetige Verfall der Preise für Agrarprodukte auf dem Weltmarkt, die würgende Verschuldungskrise und Schutzzölle anderer Wirtschaftsräume lassen der ökonomie Afrikas südlich der Sahara gegenwärtig wenig Chancen.
Da muss uns Tansania, gemessen am ostafrikanischen Umfeld, wie eine Insel des Friedens erscheinen. Keine gegenseitig aufgehetzten und zum Mord bereiten Stämme wie in Ruanda, kein Bürgerkrieg wie in Uganda, kein Zerfall staatlicher Autorität und tiefe Agonie wie im Kongo, keine Hungersnot wie in Malawi...
Und doch kommt Tansania aus eigener Kraft nur wenig voran. Die postkoloniale Struktur der Wirtschaft eröffnet keinen Weg aus alten Abhängigkeiten, die "terms of trade" verhindern nachhaltige Besserung. "Afrika produziert, was es nicht selbst konsumiert und konsumiert, was es nicht selbst produziert", - diese Klage des ehemaligen Staatspräsidenten Tansanias Julius Nyerere hat nichts an Aktualität verloren.
Hinter den nüchternen Zahlen der Beiträge in dieser Publikation verbergen sich die Gesichter von Menschen, die sich von jeglichem sozialen Fortschritt ausgeschlossen oder gar zu einem langsamen Sterben verurteilt sehen. Der unmittelbare Zusammenhang zwischen einem erbarmungslos unfairen Kaffeepreis auf dem Weltmarkt und Bildungschancen im Bezirk Moshi/Nordtansania ist jedem Mitglied unserer Delegation vor Augen geführt worden. Die Begegnung mit Familien, die AIDS-Opfer zu beklagen haben, berührt uns tief. Keiner ist von dieser Studienfahrt so zurückgekommen, wie er hingefahren ist. Wir sind dankbar für die Begegnung mit Menschen einer anderen Kultur. Wieder einmal bestätigt findet sich die Erfahrung, dass Glück vor allem in der menschlichen Beziehung und im Interesse am Nächsten liegt, nicht in der einseitigen Häufung materiellen Besitzes. Diese Einsicht stärkt Engagement und Verantwortungsbereitschaft, sie ermöglicht die Entwicklung von Perspektiven, die uns weder überfordern noch verzweifeln lassen.
Die Aussichten für die intellektuelle Selbstbestimmung Afrikas dürften vor allem von einer Bildungsrevolution abhängen, mit der gleichzeitig eine weitgehende Verwendung afrikanischer Sprachen als Unterrichtssprachen verbunden ist.
Nahezu alle afrikanischen Intellektuellen südlich der Sahara, die an modernen Hochschulen ausgebildet wurden, führen Diskussionen in europäischen Sprachen. Und da eine Hauptfunktion der Kultur darin besteht, Kommunikationsmedien bereitzustellen, hat die Wahl europäischer Sprachen als Unterrichtsmedien an afrikanischen Hochschuleinrichtungen kulturelle Folgen für die Gesellschaft. In einem 1982 vorgelegten Bericht der von Julius Nyerere berufenen "Presidential Commission on Education" wurde empfohlen, den Unterricht in Englisch wie in Kisuaheli zu verstärken und die Verwendung von Kisuaheli als Unterrichtssprache auf die weiterführenden Bildungseinrichtungen auszuweiten. Allerdings fand dieser Ansatz eines sprachlichen Wandels zu Gunsten des Kisuaheli im tansanischen Schulwesen ein abruptes Ende, nachdem das Land gegenüber dem IWF und seinen Kreditbedingungen kapitulierte, die es dazu zwangen, seine Aufwendungen für des Bildungswesen und andere soziale Bereiche zu kürzen. Damit wurde die Unabhängigkeit Tansanias langsam "zerstört". Inzwischen rückt Tansania eindeutig von seinem lange verfolgten Ziel einer umfassenderen "Suahelisierung" seines Bildungssystems ab.
Tansanias "Entsuahelisierung" ist kaum noch aufzuhalten. In einer vergleichenden Untersuchung zur Leistung von Schülern in weiterführenden Schulen in Kenia und Tansania macht die Weltbank Zweifel an der Weitsicht der tansanischen Sprachenpolitik geltend. Sie weist darauf hin, dass die weiterführende Bildung in Tansania schlechter als die in Kenia sei, und schreibt dies u.a. der ausschließlichen Betonung von Kisuaheli als Unterrichtssprache in den Grundschulen zu. Dieser verdeckte Druck der Weltbank auf eine stärkere Ausdehnung der englischen Sprache in Afrika fördert die intellektuelle Abhängigkeit des Kontinents vom Westen.
Die europäischen Sprachen, in denen die Afrikaner unterrichtet werden, sind eine wichtige Quelle intellektueller Kontrolle. In Verbindung mit der strategischen Position der Weltbank als Geber hat die sprachliche Situation es ermöglicht, lokale Intellektuelle bei der Konzipierung der lokalen Politik beiseite zu schieben.
Sie hat auch die infrastrukturellen Voraussetzungen zur technischen Reproduktion lokalen Wissens geschwächt.