MerkelDie Gewerkschaften wollen jetzt lieber mitarbeiten. Michael Sommer der Vorsitzende des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) sagte: "Die Kanzlerin hat eindeutig zugesagt, Lohndumping abzuwehren. Und wir haben fest mit ihr vereinbart, dass Gewerkschaften und Regierung die Mindest- und die Kombilohnmodelle in vergleichbaren Industriestaaten wie zum Beispiel Großbritannien und Frankreich anschauen, um dann zu entscheiden." Wo er das gehört hat, bleibt sein Geheimnis. Daraus lässt es sich wirklich nicht schließen:
"Wer arbeite, müsse mehr haben, als wenn er nicht arbeite," forderte Merkel. Und in der Unionsspitze werden 4,50 Euro diskutiert. Sozusagen die Reaktion der Regierung auf die gegenwärtigen Streiks.

Warum wäre ein Mindestlohn von zehn Euro notwendig

Vortrag von Rainer Roth beim Ver.di Landeserwerbslosenausschuss Hessen am 12.09.2005 in Frankfurt

I) Auf dem Boden der Lohnarbeit müssen Menschen im Allgemeinen ihre Arbeitskraft als Ware verkaufen. Der Preis der Ware Arbeitskraft wird Lohn genannt. Wie der Preis jeder Ware hängt auch der Preis der Ware Arbeitskraft von ihren Produktionskosten und von Angebot und Nachfrage auf dem Arbeitsmarkt ab. Er kann also unter die Produktionskosten fallen, je mehr Arbeitskräfte freigesetzt werden und je mehr sich die Warenbesitzer auf dem Arbeitsmarkt in Konkurrenz zueinander gegenseitig unterbieten. Im Unterschied zu anderen Waren enthält der Lohn aber ein starkes subjektives Element. Seine Höhe hängt auch davon ab, welches Bedürfnisniveau die Lohnabhängigen jeweils für notwendig halten, wie sie dafür kämpfen, wie gut sie organisiert sind und wie stark das Bündnis zwischen Beschäftigten und Erwerbslosen ist, das die Konkurrenz abmildert. Das unterscheidet u.a. die Ware Arbeitskraft von anderen Waren wie Bananen und äpfeln.

II) Die Höhe der Forderung nach einem gesetzlichen Mindestlohn muss sich also zunächst daran orientieren, was eine Arbeitskraft unter den konkreten Umständen in Deutschland mindestens braucht, um sich einigermaßen zu erhalten. Wie wäre es mit einer breiten Umfrage, um das festzustellen? Der Frankfurter Appell und viele andere treten jedenfalls für zehn Euro brutto ein. Eine hilfsweise Orientierung, wie hoch ein solcher Mindestlohn sein müsste, bieten

1. die Pfändungsfreigrenze. Inzwischen ist sie auf 990 Euro netto festgesetzt. Bei einem Krankenversicherungsbeitrag von 13,8% und einer 38,5 Stundenwoche rd. 8,40 € brutto/Std. bzw. wären das 1.400 € brutto im Monat. Ein Mindestlohn muss mindestens ein Lohn sein, der nicht gepfändet werden darf. (alle weiteren Berechnungen unterstellen einen KV-Beitrag von 13,8%. Alle Ergebnisse berechnet von www.tiscali.de/geld/brutto_netto_rechner.php) Die Pfändungsfreigrenze orientiert sich am Sozialhilfe/Alg II Minimum. Sie ist aber verfälscht durch das Interesse des Finanzkapitals, den Betrag möglichst niedrig anzusetzen, um die Schulden besser eintreiben zu können. Sie reicht deshalb nicht als Maßstab für LohnarbeiterInnen.

2. die offizielle Armutsdefinition des 2. Armuts- und Reichtumsberichts. Für 2001 waren es 938 Euro netto. Umgerechnet mit 6,1% Steigerung der Lebenshaltungskosten auf Juli 2005 wären es 995 Euro. 938 Euro netto entsprechen etwa 1.300 Euro brutto oder rd. 7,80 Euro die Stunde.
Die von der EU-Kommission festgesetzte Armutsgrenze ist verfälscht durch das politische Bestreben, möglichst niedrige Armutsquoten auszuweisen, um weniger ausgeben zu müssen.
Das drückt sich auch darin aus, dass die Armutsgrenze für Nicht-Erwerbstätige und Erwerbstätige einheitlich festgesetzt wird. Erwerbstätige aber haben schon allein deswegen einen höheren Bedarf, weil sie Werbungskosten haben. Nach den Freibeträgen, die ab 1.10. 2005 für Erwerbstätige gelten und die (wenn auch verzerrt) ihren höheren Bedarf, u.a. die Werbungskosten, wiederspiegeln, kämen noch einmal 280 Euro netto hinzu. Das wären dann schon 1.275 Euro netto oder rd. 2.000 € brutto mtl. bzw. rd. 12 € brutto.

3. Das Kapital tritt für Kombilöhne ein, also massive Lohnsubventionen. Sein Standpunkt lautet: "Je höher die Zuverdienste ausfallen, die der Staat anrechnungsfrei lässt, desto besser." (FTD 14.04.2005) "Es dürfte dann (bei höherem anrechnungsfreien Arbeitseinkommen) einen Abwärtsdruck auf die Stundenlöhne geringqualifizierter geben," kommentierte die FTD. (21.03.2005) Die Zuverdienste drücken sich in Freibeträgen aus. Der Betrag, an dem das anrechnungsfreie Einkommen ausläuft, markiert objektiv das vom Kapital als notwendig anerkannte Lebensniveau eines alleinstehenden Lohnabhängigen. Die staatliche Lohnsubvention läuft für den Sachverständigenrat der Bundesregierung ( (Rürup) bei etwa 1.000 Euro netto aus, von denen 500 Euro vom Staat und 500 Euro vom Unternehmen bezahlt werden. 1.000 € netto entsprechen rd. 1.450 € brutto oder rd. 8,70 € die Stunde. Der Höchstbetrag für staatliche Lohnsubventionen ist wiederum von dem Interesse des Kapitals begrenzt, möglichst wenig Steuermittel für den Ausbau der Lohnsubventionen einzusetzen, um weitere Steuersenkungen für sich selbst eher durchsetzen zu können. Graf Solms (FDP) formulierte als sein Ziel und das des Kapitals die völlige Abschaffung der Einkommens- und Körperschaftssteuer. (FTD 12.09.2005) Der vom Kapital angestrebte Kombilohn (negative Einkommensteuer) ist eine Abart eines gesetzlichen Mindestlohns. Nur dass wachsende Teile dieses "Lohns" nicht vom Kapital selbst, also den Käufern der Ware Arbeitskraft, sondern über Steuermittel von der Masse der Lohnabhängigen bezahlt werden sollen. Es handelt sich um eine Art Vergesellschaftung des Lohns. Im Namen der Marktwirtschaft. Die Lohnarbeit führt sich ad absurdum, je mehr LohnarbeiterInnen nur noch mit einer dauerhaften Abhängigkeit von staatlichen Zahlungen über die Runden kommen.

4. Das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) setzt für 2001 als Niedriglohn für Vollzeitbeschäftigte 1.630 Euro brutto an oder 2/3 des nationalen Medianlohns. Median ist der Wert, der sich in der Mitte der Einzelwerte befindet. Nicht zu verwechseln mit dem Durchschnittslohn. Weniger als 1.630 Euro brutto hatten 3,63 Mio. Menschen oder 14,2% der VZ-Beschäftigten. (böckler impuls 6/2005, 2) Wer es also ernst damit meint, keinen Niedriglohnsektor haben zu wollen, der muss für einen gesetzlichen Mindestlohn von wenigstens zehn Euro eintreten.

5. Der Mindestlohn im Baugewerbe beträgt für Ungelernte zehn Euro. Warum sollte ein gesetzlicher Mindestlohn darunter liegen?

6. Zu den Reproduktionskosten der Ware Arbeitskraft gehören auch die Kosten der Kinder, die die neue Generation von Arbeitskräften darstellen. Das Lohnniveau von zehn Euro die Stunde bezieht sich aber nur auf die Erhaltung der Arbeitskraft selbst, nicht auf die Unterhaltungskosten dieser Kinder der Arbeitskräfte, ohne die die Lohnarbeit und damit auch das Kapital gar nicht weiterbestehen könnte. Die offizielle Armutsgrenze der EU für Kinder unter 15 Jahren liegt bei 281 Euro oder 30% von 938 Euro. Gegenwärtig beträgt das Kindergeld 154 Euro. Im Lohn einer Arbeitskraft müssten also mindestens weitere 130 Euro enthalten sein, damit ein Kind pro Arbeitskraft auf dem Niveau der offiziellen Armutsgrenze, also auf Sparflamme ernährt werden kann.

Es sei denn, man sagt, dass die Unterhaltungskosten von Kindern nicht zu den Produktionskosten der Ware Arbeitskraft gehören. Dann würden Lohnabhängige für Lohnsubventionen an sich selbst eintreten, damit das Lohnniveau im Interesse des Kapitals unter die Reproduktionskosten abgesenkt werden kann. Zehn Euro brutto sind also schon ein massives Zugeständnis. Ein Zugeständnis, dass der gegenwärtigen Schwäche geschuldet ist, zu der die partnerschaftliche Zusammenarbeit der Gewerkschaftsführungen mit dem Kapital und seiner Regierung viel beiträgt.

III) Zugeständnisse an das Kapital machen u.a. auch darin fest, dass die seit 2000 aufgestellte Forderung nach 3.000 DM Mindestlohn brutto (umgerchnet 1.534 Euro) heute vollständig aufgegeben worden ist. Mit dem Hinweis auf die mangelnde Durchsetzbarkeit bzw. das Niveau von Mindestlöhnen in anderen europäischen Ländern. Mit der Steigerung der Lebenshaltungskosten von 8% seit 2000 fortgeschrieben, kämen wir von 3.000 DM brutto auf heute 1.656 Euro brutto. Das wären bei einer Wochenarbeitszeit von 38,5 Stunden etwa zehn Euro brutto. Die Forderung muss auch verteidigt werden gegen die Vorschläge der DGB-Führung, die Nettolöhne dadurch zu erhöhen, dass 250 € brutto sozialversicherungsfrei bleiben. Da die Ausfälle bei den Sozialversicherungen über eine Mehrwertsteuererhöhung auf 18% gedeckt werden sollen, sollen u.a. Arbeitslose mit einer Senkung ihres Lebensstandards Nettolohnsteigerungen finanzieren bzw. Steigerungen der Nettoprofite des Kapitals. Das richtet sich direkt gegen ein Bündnis zwischen Erwerbslosen und Beschäftigten und schwächt beide.

IV) Ein gesetzlicher Mindestlohn von 10 Euro brutto wäre eine gewisse Schranke gegen die schleichende Aushöhlung der Flächentarifverträge. Ebenfalls gegen die Tendenz, die Löhne mit wachsender Arbeitslosigkeit immer mehr unter die Reproduktionskosten der Ware Arbeitskraft zu senken. Immerhin verdienen drei Millionen Vollzeitkräfte weniger als 1.500 Euro brutto. (FTD 28.06.2005) Ein Leben ohne Armut bzw. in sozialer Gerechtigkeit bzw. Menschenwürde würden sie nicht garantieren können. Es sein denn, man hält den Verkauf von Ware Arbeitskraft an einen Käufer, der an ihrer Nutzung verdienen will, für die Verkörperung der Menschenwürde und der sozialen Gerechtigkeit. Mit Hilfe der rasant steigenden Produktivität vermindert das Kapital aber die Nachfrage nach Arbeitskraft immer mehr und verstärkt damit die Tendenz, das Lohnniveau zu senken. In den USA sind die Löhne der meisten Lohnabhängigen auch 2004 real gesunken. Das weist auf eine erheblich höhere Arbeitslosigkeit hin, als sie offiziell ausgewiesen wird. Die USA zeigen die Richtung der Entwicklung.

Das Lohnsystem selbst steht damit auf dem Prüfstand, nicht nur die Lohnhöhe.

Bruttolohn von 1.200 ist Armutslohn

Das „Netzwerk für eine kämpferische und demokratische ver.di” kritisiert die vom ver.di-Vorsitzenden genannte und inzwischen von Lafontaine übernommene Höhe eines gesetzlichen Mindestlohns von 1.200 Euro als Armutslohn. Ver.di selbst bezeichnet Löhne unter 2.163 Euro als Niedriglöhne und Löhne unter 1.442 Euro als Armutslöhne. Wenn Bsirske jetzt nur 1.200 Euro fordert, dann zeigt das, dass der ver.di-Vorstand arbeitende Arme zum Programm der Gewerkschaften machen will. Beim ver.di-Kongress im Oktober 2003 wurden zwei Anträge des Bundeserwerbslosenausschusses und der Landesbezirkskonferenz Bayern mit der Forderung nach einem gesetzlichen Mindestlohn von 1.500 Euro verbunden mit einer automatischen jährlichen Erhöhung entsprechend der Inflationsrate als Material für den Bundesvorstand angenommen. Im Frühjahr 2004 sprach Bsirske selbst noch von einem Mindestlohn von 1.500 Euro. Leider hat die ver.di-Führung diese Marke inzwischen durch die eigene Tarifpolitik unterschritten. Im neuen Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst wurden die unteren Lohngruppen im Durchschnitt um 300 Euro auf einen Armutslohn von 1.286 Euro abgesenkt. Das Netzwerk oppositioneller Gewerkschafter in ver.di hat dies von Anfang an kritisiert und Kampfmaßnahmen gegen die Lohnabsenkungen der Arbeitgeber gefordert.
Das ver.di-Netzwerk betrachtet es als Zynismus, wenn Spitzenfunktionäre wie Bsirske, die im Monat mehr als 13.000 Euro einstecken, von Millionen abhängig Beschäftigten erwarten, dass sie mit weniger als einem Zehntel ihres Einkommens über die Runden kommen sollen.

Die oppositionellen verdianer fordern WASG und PDS auf, die im Gründungsprogramm der WASG geforderten 1.500 Euro Mindestlohn zum Wahlprogramm des Linksbündnisses zu machen und den Versuch von Bsirske und Lafontaine auf eine Absenkung auf 1.200 Euro zurückzuweisen.

Durch eine starke linke Parlamentsfraktion und eine Kampagne für einen Mindestlohn kann gesellschaftlicher Druck aufgebaut werden für einen Mindestlohn oberhalb eines Armutslohns. Das wird aber nicht ausreichen, die nächste Bundesregierung dazu zu bringen, einen solchen Mindestlohn zum Gesetz zu machen. Er kann nur durchgesetzt werden, wenn die Einzelgewerkschaften und der DGB einen bundesweiten Streik dafür organisieren. Und den gilt es vorzubereiten. Deshalb fordert das „Netzwerk für eine kämpferische und demokratische ver.di” alle GewerkschafterInnen auf, in den Betrieben, an der Basis und in den Gremien Druck zu machen, dass die Gewerkschaften nach der Bundestagswahl einen Arbeitskampf für einen Mindestlohn von 1.500 Euro organisieren. Ein solcher Kampf muss verbunden werden mit dem Kampf zur Rücknahme der Hartz-Gesetze und des gesamten Sozialabbaus und der Umverteilung zugunsten der Reichen in den letzten 25 Jahre.

Sollen diese Leute Mindestlohn erhalten?