29.07.2006 / Thema / Seite 10

«Widerstand mobilisieren»

Antikapitalistische Linke fordert breite Debatte zum «Aufruf zur Gründung einer neuen Linken»

Wahr di Garr de Bur kümmt Führende Politikerinnen und Politiker von Linkspartei und WASG haben am 2. Juni 2006 in Berlin mit der Vorlage eines «Aufrufs zur Gründung einer neuen Linken» die Programmdebatte im Vorfeld ihrer für 2007 geplanten Fusion eröffnet (jW veröffentlichte das Dokument in der Ausgabe vom 3./4./5. Juni an dieser Stelle). In einer Pressemitteilung vom Freitag und einem Thesenpapier fordern prominente Unterstützerinnen und Unterstützer des Aufrufs «Für eine antikapitalistische Linke» – er wurde Ende März im Rahmen der Diskussion zu Strategie und Programmatik der neuen linken Partei veröffentlicht und inzwischen von rund 700 Personen aus Linkspartei, WASG und sozialen Bewegungen unterzeichnet – eine breite Debatte zum Gründungsaufruf. jW dokumentiert im folgenden beide Papiere.

Zu dem am 2. Juni 2006 von Oskar Lafontaine, Gregor Gysi, Felicitas Weck, Klaus Ernst, Katja Kipping und Lothar Bisky vorgestellten «Aufruf zur Gründung einer neuen Linken» erklären Sahra Wagenknecht, Mitglied im Parteivorstand der Linkspartei.PDS und Abgeordnete im Europäischen Parlament; Thies Gleiss, Mitglied im Bundesvorstand der WASG; Sabine Lösing, Mitbegründerin der WASG, ehemals Mitglied im geschäftsführenden Bundesvorstand und aktuell Mitglied im Länderrat der WASG; Tobias Pflüger, parteiloser Abgeordneter für die Linkspartei.PDS im Europäischen Parlament, sowie Ulla Jelpke und Nele Hirsch, Mitglieder in der Bundestagsfraktion DIE LINKE.:

Wir wollen hiermit einige Thesen zum «Aufruf zur Gründung einer neuen linken Partei» zur Diskussion stellen. Mit den darin vorgeschlagenen Ergänzungen und Konkretisierungen kann der Aufruf eine gute Grundlage sein, um darauf aufbauend für eine starke linke Partei mit einem antikapitalistischen Anspruch in der Bundesrepublik zu streiten.

Wir leben heute in einer Situation der weltweiten Umverteilung von Einkommen und Vermögen von unten nach oben und sind mit vielfältigsten politischen Manövern konfrontiert, das Kräfteverhältnis zwischen den Kapitalbesitzern und -nichtbesitzern nachhaltig zugunsten der ersten zu verändern. Alle Streiks der letzten Monate, zahllose Konflikte um Einzelforderungen im sozialen und kulturellen Bereich zeigen eindeutig: Selbst für die Verteidigung längst errungener sozialer Rechte und Standards ist heute ein massiver Kampf auf allen Ebenen der Gesellschaft erforderlich. Der Spielraum für positive Veränderungen ist auch für eine in vielen Parlamenten verankerte Linke klein geworden. Wir stehen deshalb für eine konsequente Interessenspolitik und für eine konfliktorientierte Auseinandersetzung. Der täglich in allen Medien verkündeten Kampfansage von Unternehmern und Konzernen, ihren Verbänden und politischen Parteien muß eine ebenso deutliche Kampfansage gegenübergestellt werden. Die neue linke Partei muß deshalb fest in den außerparlamentarischen Bewegungen verankert sein.

Um in diesem Sinne an die richtigen Weichenstellungen des Aufrufes – etwa die enthaltene Forderung nach überführung von Schlüsselbereichen der Wirtschaft und der Daseinsvorsorge in öffentliche Eigentumsformen oder der Absage an den Kurs eines bedingungslosen Mitregierens– anknüpfen zu können, muß der Text durch einige zentrale Punkte ergänzt und konkretisiert werden:

Allen voran muß eine deutlich konsequentere friedenspolitische Position bezogen werden. Eine Absage allein an «völkerrechtswidrige» Kriege reicht nicht aus. Jeglicher bewaffnete Einsatz deutscher Soldaten, auch wenn er mit einem formal «korrekten» UN-Mandat erfolgt, ist abzulehnen. Deutsche Soldaten haben im Ausland nichts zu suchen.

Weiter vermissen wir antifaschistische und antirassistische Forderungen wie das Grundrecht auf Asyl oder die Abschaffung des Abschiebegewahrsams. Auch muß eine linke Partei ihre Stimme gegen die zunehmende Repression in der Innenpolitik und für einen Ausbau von Grund- und Freiheitsrechten erheben. Das bedeutet unter anderem, Einsätze der Bundeswehr im Inneren abzulehnen sowie für die Aufrechterhaltung eines umfassenden Folterverbotes und die Abschaffung der Geheimdienste einzutreten.

Unerläßlich sind ferner Ergänzungen bei den vorgeschlagenen Mindestbedingungen für Regierungsbeteiligung. Auf Landesebene müssen hier auch innen- und bildungspolitische Fragestellungen eine Rolle spielen. Ein Beispiel ist die Sicherstellung eines gebührenfreien Zugangs zu Kitas, Schulen und Hochschulen. Im Bund muß die Ablehnung von Militäreinsätzen zusätzlich aufgenommen werden.

Um diese und zahlreiche weitere Fragen zu diskutieren, fordern wir eine breitere Debatte zur Programmatik und Strategie der neuen linken Partei. Der Vorschlag aus der Bundestagsfraktion zu Regionalkonferenzen, auf denen alle Initiatorinnen und Initiatoren der verschiedenen Papiere ein Podium bekommen, um ihre überlegungen vorzustellen und gemeinsam über die unterschiedlichen Ansätze zu diskutieren, findet deshalb unsere volle Unterstützung. Wir möchten dabei unsere Positionen aus dem Aufruf «Für eine antikapitalistische Linke» einbringen.

Thesen zum «Aufruf zur Gründung einer neuen Linken»

Der am 2. Juni 2006 von Oskar Lafontaine, Gregor Gysi, Felicitas Weck, Klaus Ernst, Katja Kipping und Lothar Bisky vorgestellte Aufruf ist für uns unterstützenswert, da es – gerade im Vergleich mit manchen anderen Veröffentlichungen in der bisherigen Programm- und Strategiedebatte – ein erster Schritt hin zu einer linken Politik und Praxis der neuen Partei sein kann. Wir wünschen uns eine breitere Debatte zu dem Text und möchten dabei unter anderem unsere Positionen aus dem Aufruf «Für eine antikapitalistische Linke» einbringen.

Wir sind uns dabei bewußt, daß sich die Kritik am Kapitalismus im Aufruf nur auf den «Raubtierkapitalismus» oder die «Barbarei der kapitalistischen Gesellschaft» beschränkt. Auch das enthaltene Bekenntnis zum demokratischen Sozialismus ist wenig glaubhaft, wenn damit offensichtlich nicht die Forderung nach Aufhebung der kapitalistischen Wirtschaftsordnung, sondern einzig ihre Verbindung mit einer sozialen Gesellschaftsordnung gemeint ist – und zudem bei der Bewertung vergangener sozialistischer Gesellschaftsentwürfe – etwa der DDR oder der osteuropäischen Staaten – unausgesprochen bleibt, daß ein wesentlicher Grund für ihr Ende in den massiven imperialistischen Angriffen lag.

Wir halten es dennoch für möglich und sinnvoll, an die richtigen Weichenstellungen des Aufrufs anzuknüpfen, um darauf aufbauend für eine starke linke Partei mit einem antikapitalistischen Anspruch in der Bundesrepublik zu streiten. Beispiele sind die Forderung nach überführung von Schlüsselbereichen der Wirtschaft und der Daseinsvorsorge in öffentliche Eigentumsformen oder nach Mindestbedingungen bei Regierungsbeteiligungen. Es ist dann allerdings unerläßlich, daß der Aufruf mindestens durch einige zentrale Punkte ergänzt und konkretisiert wird.

Die folgenden Thesen stellen wir vor diesem Hintergrund und mit diesem Ziel zur Diskussion:

1. Kein bedingungsloses Mitregieren

Wir begrüßen, daß der Aufruf dem Kurs eines bedingungslosen Mitregierens eine Absage erteilt und erste Mindestbedingungen für Regierungsbeteiligung formuliert. Dies ist ein Schritt in Richtung Glaubwürdigkeit – und damit Stärke– der neuen linken Partei. Ohne Mindestbedingungen für Regierungsbeteiligung droht Beliebigkeit. So hat die Zustimmung von Mandatsträgerinnen und Mandatsträgern der Linkspartei zu Privatisierungen – etwa in Berlin, Dresden, Zwickau oder zuletzt in Erfurt – der Partei in der Vergangenheit schweren Schaden zugefügt.

Als Mindestbedingungen für Regierungsbeteiligungen werden im Aufruf bisher drei Grundsätze genannt: Die Einrichtungen der öffentlichen Daseinsvorsorge dürfen nicht privatisiert, der Personalabbau muß generell gestoppt und die Kürzung sozialer Leistungen verhindert werden. Diese Grundsätze sind richtig, aber reichen nicht aus. Notwendig ist aus unserer Sicht mindestens noch das klare Bekenntnis zu einer konsequenten Friedenspolitik. Eine Zustimmung der neuen linken Partei zu Militäreinsätzen würde ihre Glaubwürdigkeit schließlich ebenfalls massiv beschädigen.

Ferner muß festgehalten werden, daß DIE LINKE. in Regierungsbeteiligung keine Maßnahmen mitträgt, die Ausgrenzungen im Bildungswesen verschärfen oder Grund- und Freiheitsrechte aushöhlen. Dies ist gerade für Regierungsbeteiligung auf Landesebene von Bedeutung, wo die Politik keine unwesentlichen Einflußmöglichkeiten besitzt. Entscheidend ist hier für den Bildungsbereich insbesondere, daß DIE LINKE. die Gebührenfreiheit von Bildung sichert bzw. ausweitet. In der Innenpolitik muß sie sich in Regierungsverantwortung unter anderem konsequent gegen Abschiebungen stellen und polizeirechtlichen Verschärfungen mit den damit einhergehenden Einschränkungen von Grund- und Freiheitsrechten, beispielsweise in den Bereichen der Demonstrationsfreiheit und des Versammlungsrechtes, entgegentreten.

2. Keine Militäreinsätze und keine Militarisierung

Kriege werden nicht für Menschenrechte, sondern für kapitalistische Interessen geführt. Nicht humanitäre, sondern materielle und geostrategische Interessen geben den Ausschlag. Die Hemmschwelle, Militär im Ausland einzusetzen, ist in den vergangenen Jahren stetig gesunken. Eine Verbesserung der Situation haben die Einsätze aber weder in Afghanistan noch im Kosovo oder anderswo gebracht. Linke Friedenspolitik sucht deshalb nicht nach vermeintlich akzeptablen Militärmissionen, sondern wirkt den bestehenden Konflikten durch den Einsatz für faire Handelsbedingungen, die Verbesserung der sozioökonomischen Verhältnisse in den Ländern der «dritten Welt» und eine innovative Energiepolitik entgegen.

Auch der Aufruf sieht DIE LINKE. als eine Partei, die für eine konsequente Friedenspolitik steht. Die dazu aufgenommene Forderung nach Ablehnung «völkerrechtswidriger Kriege» ist allerdings zu ungenau. Es bleibt unklar, ob ein UN-mandatierter Militäreinsatz von der Linken mitgetragen werden kann. Um hier Mißverständnisse auszuschließen und ein Aufweichen bisheriger friedenspolitischer Positionen der beiden Parteien zu verhindern, muß die Ablehnung jeglicher Militäreinsätze festgehalten werden. Deutsche Soldaten haben im Ausland nichts zu suchen!

Zweitens muß sich DIE LINKE. gegen jegliche Aufrüstung und Militarisierung stellen. Dabei gilt es nicht nur, dem US-Imperialismus entgegenzutreten, sondern auch der zunehmenden Militarisierung der Europäischen Union, die von der Bundesrepublik maßgeblich unterstützt und befördert wird. Wichtige Forderungen sind hierzu unter anderem ein Stopp der Unterstützung der EU-Rüstungs- und Sicherheitsforschung, die Schließung aller Militärstützpunkte, die die Infrastruktur für die Auslandseinsätze der Bundeswehr stellen, die Schließung der Militärbasen der USA, Großbritanniens und der NATO in Deutschland, die zur Führung völkerrechtswidriger Kriege und zur Verschleppung von Gefangenen genutzt wurden und werden – und mittelfristig die Auflösung der NATO.

Frauenhaus gegen Rechts 3. Gegen Faschismus, Rassismus und zunehmende Repression

Der Aufruf klammert einige wesentliche Eckpunkte einer linken Programmatik aus. Uns fehlen unter anderem folgende Schwerpunkte:

• DIE LINKE. muß sich klar zu antifaschistischen Grundsätzen bekennen und antifaschistische Arbeit unterstützen. Dieser Punkt wird im Aufruf bisher nicht einmal in einem Nebensatz erwähnt.

• DIE LINKE. muß für eine antirassistische Politik einstehen. Wichtige Forderungen sind hier das Grundrecht auf Asyl, die Abschaffung des Abschiebegewahrsams und aller Sondergesetze, wie beispielsweise das Asylbewerberleistungsgesetz, sowie gleiche Rechte für alle Menschen, die hier ihren Lebensmittelpunkt haben.

• Der geforderte «Ausbau von Grund- und Freiheitsrechten» darf sich nicht nur auf die Forderung nach Volksbegehren und Volksentscheiden beschränken. DIE LINKE. muß zugleich der zunehmenden Hochrüstung des staatlichen Repressionsapparates in der Innenpolitik entgegentreten. Das bedeutet unter anderem, Einsätze der Bundeswehr im Inneren abzulehnen sowie für die Aufrechterhaltung eines umfassenden Folterverbotes und die Abschaffung der Geheimdienste einzutreten.

4. Bildung ist mehr als Kita und Schule

Bildung endet nicht mit der Schule. Linke Vorschläge zur Reform der beruflichen Bildung, zum Studium und zur Weiterbildung müßten im Bildungsabsatz deshalb zumindest kurz umrissen werden. Entscheidend sind hier beispielsweise die Forderung nach einer gesetzlichen Ausbildungsumlage in der beruflichen Bildung, die Einführung einer elternunabhängigen repressionsfreien Grundsicherung für Schülerinnen und Schüler, Auszubildende und Studierende, die Ausweitung von Mitbestimmungsmöglichkeiten und die Sicherstellung einer kritischen Forschung und Wissenschaft in gesellschaftlichem Interesse.

DIE LINKE. steht nicht nur vor der Herausforderung, Chancengleichheit zu erhöhen, sondern auch die zunehmende ökonomisierung der Bildung zu verhindern.

5. Gegen Sexismus

Der Aufruf fordert die Gleichberechtigung von Frauen. Der Text beschränkt sich allerdings fast ausschließlich auf die Aufhebung der Diskriminierung durch die bisherige materielle Schlechterstellung von Frauen. Das reicht nicht aus. DIE LINKE. muß sich für die vollständige politische und wirtschaftliche Gleichstellung von Frauen und für die Aufhebung patriarchal geprägter Herrschaftsmechanismen einsetzen. Dazu gehört auch, sich klar gegen sexualisierte Gewalt und Sexismus – auch auf vermeintlich niedriger Ebene durch Machoverhalten oder frauenfeindliche Sprüche – auszusprechen. Gleiches gilt für Sexismus in Medien und öffentlichkeit. In diesem Zusammenhang gilt es auch, den Erhalt und Ausbau autonomer Frauenräume und -strukturen zu fordern.

6. Gesellschaftliche Gegenmacht stärken

Wichtiger als das im Aufruf erwähnte «Aufgreifen der Forderungen der außerparlamentarischen Bewegungen» ist für uns die Bereitschaft zu einer engen und gleichberechtigten Zusammenarbeit zwischen parlamentarischen und außerparlamentarischen Kräften. Die parlamentarischen Aktivitäten müssen dabei darauf zielen, gesellschaftliche Gegenmacht zu stärken und Widerstand gegen die herrschenden Verhältnisse zu mobilisieren. Dazu bedarf es vor allem der Stärkung und Organisierung der lohnabhängig Beschäftigten bzw. Erwerbslosen. Die im Aufruf aufgestellte Forderung nach einem «Recht auf Generalstreik» greift diesen Ansatz auf.

Ferner müssen die Organisationsformen der beiden Parteien hinterfragt und für die neue linke Partei im Sinne demokratischer Meinungsbildungsprozesse unter Einbeziehung aller und größtmöglicher Transparenz verändert werden. Dies ist auch eine unerläßliche Voraussetzung dafür, daß die neue linke Partei nicht nur eine Fusion von WASG und Linkspartei darstellt, sondern tatsächlich ein breites Bündnis all derjenigen wird, die «für ein friedlicheres, gerechteres, ökologischeres und sozialeres Zusammenleben der Menschen» und für eine sozialistische Gesellschaft streiten wollen.